Nach der radikal-konstruktivistischen Epistemologie können wir nicht eine von unseren Erfahrungen unabhängige Welt beschreiben. Die Zeit, die zwischen unseren Erfahrungen und den Erfahrungen von Menschen einer vergangenen Kultur liegt, trennt die jeweiligen Erfahrungsräume voneinander. Da Wissen über die Welt durch die Erfahrungen in der Welt bedingt wird, trennt die Zeit nicht nur Erfahrungsräume, sondern auch Wissensräume. Eine solche Annahme hat natürlich schwerwiegende Konsequenzen für ArchäologInnen, denn die uns interessierenden Wissensräume der vergangenen Kulturen sind dadurch nur indirekt, aus der Perspektive des gegenwärtigen Wissensraums zugänglich.
Die bereits erwähnte radikal-konstruktivistische Theorie des Wissens (von Glasersfeld 1983, 1984, 1991, Rusch 1997, Holtorf 1995, und 2006) bildet den Ausgangspunkt meines Vortrags. Es soll im ersten Schritt diskutiert und problematisiert werden, wie ein vergangener Wissensraum definiert und analysiert werden kann, obwohl ein solcher Raum praktisch nicht erfahrbar ist. Im nächsten Schritt soll anhand eines archäologischen Beispiels – eines Hauses auf der Insel Elephantine in Ägypten (ca. 1800 v. Chr.) – demonstriert werden, wie ein vergangener Wissensraum entsteht, bzw. von dem Ausgräber als solcher konstruiert wird (von Pilgrim 1996). Es wird gezeigt, wie anhand des archäologischen Befundes eine konkrete, geschlossene, von der Umgebung abgetrennte architektonische Einheit erkennbar ist. Diese Einheit wird vom Ausgräber als diskreter Raumeinheit (Haus) interpretiert. Außerdem weist er diesem Haus eine bestimmte soziale Bedeutung zu. So wird z.B. anhand der Dicke der Außenmauer des Hauses eine den gesellschaftlichen Status und die Identität des Hausbesitzers betreffende Interpretation vorgelegt. Anhand des konkreten archäologischen Materials wird ein vergangener Wissensraum schrittweise konstruiert und mit einer Bedeutung versehen. Anhand des genannten Beispiels will ich also, mich auf die radikalkonstruktivistische Theorie des Wissens stützend, darstellen, wie vergangene Wissensräume basierend auf unsere eigenen Erfahrungen konstruiert werden (können).

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Bibliographie:

  • von Glasersfeld, Ernst. 1983. On the Concept of Interpretation, in: Poetics 12 (2/3), S. 207-218 (online unter http://www.vonglasersfeld.com/082, Zugriff 25.4.2012).
  • von Glasersfeld, Ernst. 1984. Thoughts about Space, Time and the Concept of Identity (Aufsatz online unter http://www.vonglasersfeld.com/086, Zugriff 25.4.2012).
  • von Glasersfeld, Ernst. 1991. Knowing without Metaphysics: Aspects of Radical Constructivist Position, in: Steier Frederick (Hrsg.), Research and Reflexivity, London: Sage, S. 12-29 (online unter http://www.vonglasersfeld.com/132, Zugriff 25.4.2012).
  • Holtorf, Cornelius. 1995. “Objekt-orientated” und “Problem-orientated” Approaches of Archaeological Research – Reconsidered, in: Hephaistos 13, S. 7-18 (online unter http://www.univie.ac.at/constructivism/papers/holtorf/97-knowing.pdf, Zugriff 25.4.2012).
  • Holtorf, Cornelius. 2006. Über Archäologisches Wissen, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 47, S. 349-370.
  • von Pilgrim, Cornelius. 1996. Elephantine 18. Untersuchungen in der Stadt des Mittleren Reiches und der Zweiten Zwischenzeit, Archäologische Veröffentlichungen 91, Mainz am Rhein: Philipp von Zabern.
  • Rusch, Gebhard. 1997. Konstruktivismus und die Tradition der Historik, in: Österreicherische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8 (1): Geschichte beobachtet, S. 45-75.